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Referat von Dr. Ignazio Cassis

Bundesrat Dr. Ignazio Cassis

11. Mai 2023

Die ZVG freute sich sehr über ihren hochkarätigen Gast an der gestrigen Veranstaltung: Bundesrat Dr. Ignazio Cassis reiste nach Zürich und referierte vor den Mitgliedern über die Demokratie und wie sich die Welt derzeit verändert. Seit Februar letzten Jahres befände sich Europa in einer neuen Lage: die gemeinsame Sicherheitsarchitektur sei zusammengebrochen. Von einer «Zeitenwende» zu sprechen, sei deshalb nicht übertrieben! Diese Zeitenwende käme allerdings nicht aus heiterem Himmel. Der Angriff Russlands war die Zäsur, die Europa die rosarote Brille von den Augen gerissen habe. Global betrachtet verstärke dieser Angriff jedoch Trends, die schon seit längerem zu beobachten seien. Bundesrat Cassis sagt, man erkenne anhand fünf Beobachtungen, wie sich in dieser Phase die Demokratie entwickle.

Beobachtung 1: Die Welt wird weniger global und weniger westlich
Aufstrebende Mächte grenzten sich vom Westen ab. Stattdessen propagierten sie alternative Gesellschafts- und Entwicklungsmodelle. Das Völkerrecht stehe unter Druck. Der Multilateralismus konnte sein Versprechen des Erhalts des Friedens nicht erfüllen.

Beobachtung 2: Auch die Demokratie ist unter Druck
Um die Demokratie war es schon besser bestellt. Autokratisches Denken sei heute wieder «in» und es verbreitet sich. Demokratien seien heute von aussen und von innen bedroht.

Beobachtung 3: der Fortschritt verläuft wellenförmig
Kurzfristig muss man ein düsteres Bild zur Demokratie malen. Wählt man aber eine langfristige Betrachtungsweise, so erkennt man: es gibt seit mehr als 200 Jahren einen Trend in Richtung mehr Demokratien. Der demokratische Fortschritt verliefe aber seit jeher nicht linear, sondern wellenförmig sagt Bundesrat Cassis.

Beobachtung 4: Die Freiheit ist die stärkste Kraft
Es gäbe keinen Grund, in einen westlichen «Demokratiepessimismus» zu verfallen. Der aktuelle Negativtrend werde sich längerfristig wieder ins Positive wenden und die liberale Demokratie ihren Siegeszug fortsetzen. Um das bekannte Bonmot von Churchill aufzunehmen, «die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen». Dies liege auch daran, dass liberale Demokratien im Wettbewerb der Systeme nach wie vor ein paar Asse im Ärmel hätten. Eines davon sei das Streben nach Freiheit.

Beobachtung 5: Die Demokratie ist ein Verfassungsauftrag
Es zeichne sich wohl ab, dass das Ringen zwischen Demokratien und Autokratien in den nächsten Jahren prägend werde. Die Förderung von Demokratie sei eine Aufgabe, die Art. 54 der Bundesverfassung vorgebe. Hier könne und müsse die Schweiz noch mehr machen. Die Schweiz könne Staaten und Gesellschaften bei der Stärkung ihrer Demokratie unterstützen. Und das tut die Schweiz bereits!

Bundesrat Cassis fasst zusammen und meint, der Bundesrat müsse die eigenständige Schweizer Aussenpolitik, mit ihrer Neutralität und Universalität, auf alle Seiten gut erklären. Und auch aushalten, wenn es kritische Töne gebe.
Das setze aber voraus, dass das Schweizer Selbstbild auch mit der Realität übereinstimmt. Die Schweiz müsse sich darauf verständigen, was die Prioritäten seien und wohin die Reise gehen soll. Dies sei in der heutigen unruhigen Zeit und übermediatisierten Welt schwierig zu eruieren. Zwischen der öffentlichen Meinung und der veröffentlichten Meinung sei die Kluft gewachsen. Der Grundlärm sei unüberhörbar und sehr kontradiktorisch.

Antoine de Saint-Exupéry habe es in seinem Buch «Citadelle» auf Deutsch «Die Stadt in der Wüste» bereits 1948 – also kurz nach dem 2. Weltkrieg – schön dargelegt: «Pour ce qui est de l’avenir, il ne s’agit pas de le prévoir, mais de le rendre possible».

Nach diesen interessanten Einblicken in das Weltgeschehen durch Bundesrat Cassis moderierte die ZVG-Präsidentin Regine Sauter die Fragerunde. Im Anschluss an das gut besuchte Referat offerierte die ZVG den Teilnehmenden einen Apéro.